

SI-Debatte: Stewardship ist tot, es lebe Stewardship!
In den letzten Jahrzehnten wurden institutionellen Anlegern mehr Rechte und Pflichten gegenüber börsennotierten Firmen eingeräumt, um ihre Portfoliounternehmen besser zur Rechenschaft ziehen zu können. In den letzten Jahren scheint der Einfluss institutioneller Investoren jedoch zunehmend bedroht zu sein.
Zusammenfassung
- Aktuelle Trends stellen eine Bedrohung für die Rechte und Pflichten von Aktionären dar
- Die Ausübung von Aktionärsrechten ist ein wichtiges Element beim (nachhaltigen) Investieren
- Investoren sollten mit Unternehmen über alle Themen sprechen können, die sie für relevant halten
Institutionelle Anleger haben oft einen langfristigen Anlagehorizont, einen professionellen Investmentansatz und hinreichenden Einfluss in Bezug auf Abstimmungs- macht. Das bedeutet, dass sie ihren Eigentümerstatus nutzen können, um erwünschte Änderungen in ihren Portfolio-Unternehmen, der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt herbeizuführen.
Jetzt, da Klimawandel, Geopolitik, Zollkonflikte und die zunehmend politisierte Debatte über nachhaltige Investitionen die Nachrichten dominieren, findet dieser Trend nicht mehr viel Beachtung. Aber Aktionäre sollten sich Gedanken darüber machen.
Kontrollrechte für Aktionäre sind fast so alt wie das erste börsennotierte Unternehmen. Aktionäre sind Miteigentümer und als solche werden sie immer ein gewisses Maß an Einfluss haben wollen, um sicherzustellen, dass die Interessen des Managements mit ihren übereinstimmen. Bis vor einem Jahrzehnt machten institutionelle Anleger kaum Gebrauch von ihren Aktionärsrechten oder versuchten nur selten aktiv Einfluss auszuüben, insbesondere im Vergleich zu Großaktionären oder aktivistischen Hedgefonds.
Dies war naheliegend, da institutionelle Anleger oft breit gestreut investieren und gleichzeitig nur einen Bruchteil der meisten Unternehmen, in die sie investieren, in einem Portfolio halten. Der Aufwand war einfach zu hoch im Vergleich zu den Vorteilen einer Veränderung.
Wenn Aktionäre mit einem Unternehmen unzufrieden waren, stimmten sie üblicherweise „mit den Füßen ab“, d.h. sie verkauften die Aktien und investierten woanders. Unter Verwendung von Albert Hirschmans einflussreicher Abhandlung „Exit, Voice and Loyalty“ lässt sich sagen, dass institutionelle Investoren angesichts ihrer verfügbaren Optionen dazu neigten, Ausstieg und Loyalität gegenüber ihrem Stimmrecht den Vorrang zu geben.
Bleiben Sie über die neuesten Einblicke ins Sustainable Investing auf dem Laufenden
Melden Sie sich für unseren Newsletter an und erfahren Sie, welche Trends das Sustainable Investing prägen.
Krisen, die alles verändert haben
Zwei Krisen in jüngerer Zeit haben das geändert. Eine Welle von Bilanzskandalen in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren hat zu einer Neubewertung der Aktionärsrechte geführt – in Bezug auf die Vertretung im Board, Anreizstrukturen und Offenlegungen gegenüber den Aktionären. Die globale Finanzkrise von 2008 hat uns gelehrt, auf Anreizstrukturen zu achten, und dass ein alleiniger Fokus auf Rentabilität systemische Risiken außer acht lassen könnte.
Die Analyse dieser Krise führte zu der Forderung nach mehr Überwachung und aktiver Interessenvertretung (Stewardship) seitens institutioneller Investoren. Sie führte auch dazu, dass Investoren bei der Analyse von Unternehmen einen langfristigeren, ganzheitlicheren Ansatz verfolgten, d. h., sie begannen, nichtfinanzielle Aspekte, wie finanziell relevante ESG-Informationen, in ihr Anlageresearch einzubeziehen.
Der Aufstieg von Stewardship
Als Reaktion auf diese Krisen entstanden die Möglichkeit, über einen Bevollmächtigten abzustimmen, das 2010 in den USA eingeführte Konzept „Say on Pay“ und die Einführung verschiedener Stewardship-Regularien in Europa (und späteren anderen Regionen). Dies führte dazu, dass institutionelle Aktionäre ihre Stimmrechte ausübten, an Aktionärsversammlungen teilnahmen und Engagement-Richtlinien einführten.
In den letzten Jahren haben institutionelle Investoren Stewardship-Teams aufgebaut und nutzen Engagement als wichtiges Instrument zur Umsetzung ihres Nachhaltigkeitsansatzes. Dies scheint sich jedoch nun zu ändern, und mehrere aktuelle Trends scheinen darauf hinzudeuten, dass effektives Stewardship seitens institutioneller Anleger nachlässt.
SI-Debatte
Diese Aktionäre, was für eine Plage!
Der erste besorgniserregende Trend besteht darin, die Börsennotierung für Unternehmen dadurch attraktiver zu machen, dass Gründer die Kontrolle behalten und die Überwachung durch die Märkte verringert wird. Dies hat zu mehr Nachsicht bei der Ausgabe von Aktien mit unterschiedlichen Stimmrechten in Märkten wie Italien und auch bei jungen Börsennotierungen in Großbritannien geführt.
Während viele dieser Bestimmungen für Start-up-Unternehmen, die auf den Markt kommen, in Ordnung sind, haben viele Technologiefirmen (insbesondere in den USA) diese Kontrollbestimmungen beibehalten, was Stewardship erschwert. Der alte Grundsatz „eine Aktie, eine Stimme“ scheint nicht mehr zu gelten.
Unternehmen zeigen die Krallen
Zweitens scheint eine härtere Haltung gegenüber den Aktionären inzwischen Konsens zu sein. Im vergangenen Jahr hat die Klage von ExxonMobil gegen Arjuna Capital und Follow This gezeigt, dass Unternehmen zurückschlagen, wenn sie glauben, dass Aktionärsrechte gegen ihre Interessen eingesetzt werden.
Darüber hinaus haben Untersuchungen des Kongresses zu möglichen Absprachen zwischen institutionellen Investoren und Stimmrechtsberatern in Klimafragen die Bereitschaft der Investoren gedämpft, zusammenzuarbeiten und sich zu diesen Themen zu äußern. Aber sollten Aktionäre nicht die Möglichkeit haben, Themen anzusprechen, die sie für finanziell oder anderweitig relevant halten? Wenn diese Themen nicht im besten Interesse des Unternehmens sind, werden sie doch sicher abgelehnt?
Die Geschichte zweier Regionen
Historisch gesehen gab es Unterschiede in der Definition der treuhänderischen Pflicht im angelsächsischen bzw. im rheinischen Modell. Ersteres war stärker auf rein finanzielle Erträge ausgerichtet, während letzteres einen breiter angelegten Stakeholder-Ansatz verfolgt. Aber wie bei vielen Dingen heutzutage scheint die Polarisierung zugenommen zu haben.
In Europa und zunehmend auch in Asien fordern die Regulierungsbehörden von der Finanzbranche Transparenz in Bezug auf negative Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit. In Europa konzentrieren sich viele Asset-Besitzer nicht nur auf monetäre Faktoren, sondern wollen auch, dass sich ihre Werte in ihren Portfolios und ihren Stewardship-Aktivitäten widerspiegeln. In den USA scheint es heutzutage ein Vergehen zu sein, überhaupt auf Nachhaltigkeit zu achten, geschweige denn über ESG-Themen zu sprechen, die Unternehmen betreffen.
Auf dem „freiesten“ Markt der Welt wird es nun zu einer echten Herausforderung, alle verfügbaren Aktionärsrechte zu nutzen, um Unternehmen in ESG-Fragen zu beeinflussen. Mehrere Investoren haben gemeinsame Initiativen zum Klimaschutz verlassen, während Investoren allgemein weniger an einer Zusammenarbeit interessiert sind. Wir gehen davon aus, dass sowohl die Anzahl der Aktionärsanträge als auch die Zustimmungsquoten bei der bevorstehenden Hauptversammlungs-Saison sinken werden.
Stewardship neu denken
Ist dies also das Ende von Stewardship? Wahrscheinlich noch nicht, und es könnte sogar einige positive Ergebnisse für die Investoren geben, die sich weiterhin für ihre Portfolio-Unternehmen engagieren. In den kommenden Jahren wird das Engagement institutioneller Investoren wahrscheinlich weniger öffentlich und weniger eskalierend sein. Angesichts der zunehmend polarisierten öffentlichen Debatte über Anträge mit Umwelt- und Sozialbezug könnte dies eine effektivere Strategie sein, um den erhofften nachhaltigen Fortschritt bei Unternehmen zu fördern.
Darüber hinaus wird eine „einfache“, binäre Botschaft, die besagt, dass ESG gut oder schlecht ist, der Breite und Komplexität der ESG-Themen, mit denen Unternehmen und Investoren konfrontiert sind, nicht gerecht. Fortschritte in Richtung einer nachhaltigen Wirtschaft beginnen damit, dass man den tatsächlichen Kontext der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens versteht und dann im Dialog die Möglichkeiten und Grenzen auslotet.
Vorteile besser erklären
Institutionelle Anleger müssen außerdem sicherstellen, dass sie den Nutzen und die Relevanz ihrer Anlageziele gegenüber Unternehmen, Kunden und anderen Interessengruppen besser erklären können. Stewardship, das nur auf eine Wirkung abzielt, ohne Rücksicht auf den Mehrwert, den es für das Unternehmen schaffen würde, ist sinnlos und an sich nicht dauerhaft oder nachhaltig.
Gleichzeitig sollte es institutionellen Anlegern erlaubt sein, ihre eigenen anlagepolitischen Überzeugungen zu Nachhaltigkeitsaspekten zu verfolgen. Themen im Zusammenhang mit Personalmanagement, Corporate Governance, Risikomanagement im Bereich Cybersicherheit oder Bereitschaft für den Wandel sind oft ein immaterielles Asset, und daher werden Investoren solche Aspekte in unterschiedlichem Ausmaß einbeziehen.
Auch wenn der Mehrwert und die Relevanz dieser Themen noch nicht für alle Marktteilnehmer ersichtlich sind, sollten institutionelle Anleger in der Lage sein, ihren eigenen Überlegungen zu folgen, um diesen Nutzen zu erfassen, und ihre Stewardship-Praktiken entsprechend auszurichten.
Stewardship ist tot, es lebe Stewardship!
Die aktuelle Bedrohung der Aktionärsrechte ist ernst. Institutionelle Anleger werden immer häufiger davon absehen, ihre Meinung zu äußern, oder sie werden aus Angst vor Klagen, regulatorischen Eingriffen oder aus Reputationsgründen kein konstruktives Engagement für langfristige Wertschöpfung anstreben.
Wir glauben, dass es für Investoren heute wichtiger denn je ist, gute Corporate Governance-Praktiken zu priorisieren, die echte Rechenschaftspflicht und nachhaltigen Fortschritt ermöglichen.