

SI-Debatte: Sollte die ESG-Integration eine spezialisierte oder integrierte Tätigkeit sein?
Als die Grundsätze für verantwortungsbewusstes Investment der Vereinten Nationen 2006 eingeführt wurden, waren institutionelle Anleger dazu angehalten, ESG-Themen in ihre Anlageentscheidungen einzubeziehen. Es wurde anerkannt, dass sich ESG auf die Performance und die gesellschaftlichen Ziele auswirkt, wobei das Konzept der doppelten Wesentlichkeit unterstrichen wurde. Fast zwei Jahrzehnte später ist die ESG-Integration zur üblichen Praxis geworden. Sie ist nicht mehr das bestimmende Merkmal im Sustainable Investing, sondern wird weithin als Teil der treuhänderischen Anlegerpflicht unter dem Gesichtspunkt der finanziellen Wesentlichkeit betrachtet.
Zusammenfassung
- Die ESG-Integration hat sich von einem Nischenthema zu einem wesentlichen Grundsatz im Anlagebereich entwickelt
- Es wird darüber debattiert, ob es sich um eine spezialisierte Tätigkeit oder um eine notwendige Kompetenz eines Analysten handelt
- In ESG-Kenntnisse zu investieren, ist eine strategische Entscheidung zur langfristigen Wertschöpfung
Eine wichtige Frage lautet, ob ESG-Analysen von spezialisierten Fachleuten durchgeführt oder ins Aufgabenspektrum der Investmentanalysten integriert werden sollten. Anders als beim Aktien- und Anleihenresearch sind die ESG-Ansätze sehr unterschiedlich und hängen von der Unternehmensgröße, den Ressourcen, der Anlagephilosophie und der Strategie ab. Es ist kein allgemeingültiges Modell vorhanden, und die Entscheidung wird dadurch erschwert, dass die Auswirkungen von ESG-Erkenntnissen auf die Anlageperformance kaum abzuschätzen sind.
Eine wichtige Frage, die Vermögensverwalter beantworten müssen, lautet, ob ESG-Research spezialisierte Kompetenzen erfordert. Die Vorteile eines eigenen spezialisierten Teams liegen darin, dass es tiefgreifende ESG-Expertise und sektorspezifisches Wissen in wesentlichen Bereichen entwickeln kann, wie z. B. in Bezug auf Dekarbonisierung oder die immer umfangreicheren nachhaltigkeitsbezogenen Vorschriften. Solche Teams verfügen über die Kompetenzen, eigenständige Analysen für Anlageteams sowie für andere interne Interessengruppen zu erstellen.
Es besteht allerdings die Gefahr, dass sie von den Anlageentscheidungen abgekoppelt werden, was zu Silos oder Doppelarbeit mit Finanzanalysten führt. Ihre Rolle muss klar festgelegt und verstanden werden – bewerten sie Nachhaltigkeitsaspekte, das Anlagepotenzial oder beides? Wenn die finanzielle Wesentlichkeit im Mittelpunkt steht, sind zusätzliche Prozesse erforderlich, um zu bestimmen, welche Anlagen für nachhaltige Portfolios infrage kommen.
Durch die Einbindung von ESG-Analysen in das Aktien- oder Anleihenresearch könnten Analysten dynamischer auf ESG-Themen reagieren und sie in die Bewertung und Risikobewertung einbeziehen. Dadurch werden Beteiligung und Rechenschaftspflicht gefördert, aber womöglich wegen eingeschränkter Zeit und Expertise auch oberflächlichere Analysen durchgeführt.
Durch hybride Research-Modelle wird anvisiert, beide Stärken zu kombinieren, wobei ESG-Fachleute mit Sektoranalysten zusammenarbeiten, um komplexe ESG-Erkenntnisse in praktikable Anlageentscheidungen zu übertragen. Solche ausgefeilten Systeme können das Beste aus beiden Bereichen vereinen, erfordern aber im Sinne des Erfolgs eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Teams.
Verschiedene Anlageklassen
Die ESG-Integration variiert stark zwischen den einzelnen Anlageklassen, da sie von vielen ESG-Research-Anbietern noch immer übersehen wird. Für ihre Wirksamkeit müssen die Analyserahmen auf die unterschiedlichen Ziele und Methoden der einzelnen Anlageklassen abgestimmt sein.
Im Aktienresearch beeinflussen ESG-Faktoren die langfristige Wertschöpfung und das Risikomanagement und zeigen Möglichkeiten auf, die über die herkömmliche Finanzanalyse hinausgehen. Im Anleihenresearch verlagert sich der Schwerpunkt auf das Verlustrisiko und die Rückzahlungsfähigkeit eines Kreditnehmers, wobei ESG-Themen wie Haftung für Umweltschäden und Arbeitsbedingungen in die Kreditwürdigkeit und Preisgestaltung einfließen. Dieser Unterschied – das Streben nach Alpha gegenüber der Risikominderung – bestimmt, ob ESG integriert oder als separate Analyse behandelt wird.
Die ESG-Integration spielt auch in Anlageklassen eine Rolle, für die in der Vergangenheit nur wenige Informationen zur Verfügung standen, wie z. B. Eigenkapital, Immobilien, Infrastruktur, Staatsanleihen und Quantitative Investing. Diese Bereiche bauen auf dm bestehenden Research auf, erfordern aber Kenntnisse über die Eigenheiten der Anlageklasse, um ESG-Auswirkungen effektiv zu interpretieren.
SI-Debatte
Kostenüberlegungen
Die ESG-Integration wirkt sich auf die betriebliche Effizienz sowie die Kosten aus. Spezialisierte Teams sind mit höheren anfänglichen Investitionen verbunden, z. B. für die Einstellung von Personal, Schulungen und Datentools, können aber skalierbare Research-Ergebnisse erzielen. Integrierte Modelle können die Grenzkosten senken und Doppelarbeit vermeiden, erfordern aber nichtsdestotrotz Schulungen und Beaufsichtigung. Größere Unternehmen neigen dazu, spezialisierte Teams zu bevorzugen. Kleinere, kostenbewusste Unternehmen bevorzugen oft die Integration.
Technologie ist entscheidend, um zu einer höheren Effizienz zu gelangen. ESG-Research beruht auf ähnlichen Grundlagen wie die Finanzanalyse und erwirkt durch gemeinsame Prozesse und Dashboards Größenvorteile. Da ESG unverzichtbar wird, sollten ihre Kosten als strategische Investitionen und nicht als optionale Extras betrachtet werden.
Daten oder Erkenntnisse
In der Vergangenheit waren ESG-Daten noch nicht standardisiert, was eine umfassende Integration in das Anlageresearch verhinderte. Heute ist der Markt ausgereifter, mit automatisierten Tools und verbesserten Offenlegungen von Unternehmen, die durch Vorschriften wie die Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen begünstigt werden.
Tools für künstliche Intelligenz (KI) und die Verarbeitung natürlicher Sprache unterstützten die ESG-Stimmungsanalyse und die Verfolgung von Kontroversen in Echtzeit und beschleunigen die Verwertung von ESG-Informationen. Der Vorteil von ESG-Research liegt heute nicht mehr darin, über die meisten Daten zu verfügen, sondern in der Anwendung intelligenter Analysetools, um aussagekräftige, zukunftsorientierte Erkenntnisse zu gewinnen.
Analysten der Zukunft
Die Zukunft der ESG-Integration wird wahrscheinlich von mehreren Trends bestimmt. Der erste ist die Konvergenz von ESG- und Finanzanalyse, die ESG-Kenntnisse zu einer bedeutenden Kompetenz für alle Investmentanalysten macht. Auch die Technologie wird wichtig sein, denn Automatisierung, Echtzeitdaten, Stimmungsanalysen und Vorhersagemodelle werden die Bereiche ESG- und die Finanzresearch verändern.
Ein weiterer Trend ist die höhere Nachfrage nach sinnvollen Karrierewegen im Finanzsektor. Ein Generationswechsel ist im Gange – die nächste Generation der Finanzanalysten hat ESG- und andere nicht-finanzielle Themen als Teil von Finanz- oder Wirtschaftsprogrammen an der Universität studiert und setzt sich zunehmend mit der doppelten Wesentlichkeit, den Perspektiven der Anteilinhaber und wirkungsorientierten Anlagen auseinander. Sie wollen weder als ESG-Analysten noch als Investmentanalysten in eine Schublade gesteckt werden. Außerdem können sie besser mit Technologien und alternativen Daten umgehen, was für alle Research-Formen unerlässlich ist.
Das ESG-Engagement in finanzieller Hinsicht oder in Bezug auf die doppelte Wesentlichkeit bleibt jedoch von den Marktbedingungen abhängig. Eine Stanford-Umfrage1 ergab, dass junge Anleger ESG-Themen stärker unterstützen als ältere Generationen. Durch wirtschaftliche Unsicherheit und sinkenden Optimismus nimmt die Begeisterung derzeit jedoch ab – die Bereitschaft zum Verzicht auf Rendite zugunsten von ESG-Zielen sank von 33 % im Jahr 2022 auf 10 % im Jahr 2024, und zwar über alle politischen Grenzen hinweg. Auch wenn wissenschaftliche Erkenntnisse die finanzielle Relevanz von ESG untermauern, müssen sie ihren Wert im Anlageresearch weiterhin unter Beweis stellen, um ein nicht verhandelbarer Grundsatz zu bleiben.
Fazit
Ein Konzept der ESG-Integration ist eine strategische Entwicklung und keine einmalige Entscheidung. Ob durch spezialisierte, integrierte oder hybride Ansätze, das Ziel sind fundiertere Anlageentscheidungen, die die finanziellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten widerspiegeln. Das optimale Modell hängt von der Unternehmenskultur, der Philosophie und der Ausrichtung auf eine bestimmte Anlageklasse ab.
Bei Robeco nutzen wir ein hybrides Modell: spezialisierte Teams konzentrieren sich getrennt auf die finanzielle und die doppelte Wesentlichkeit von Nachhaltigkeitsthemen, während Finanzanalysten die finale Entscheidung über die Auswirkung von ESG-Themen auf ihre Anlage treffen. Kürzlich haben wir unser Team für die Analyse der finanziellen Wesentlichkeit in „Sustainable Alpha Research“ umbenannt, um zu verdeutlichen, dass sein Schwerpunkt auf dem Beitrag zur Anlageperformance und einer engeren Einbindung ins Anlageresearch liegt. ESG ist ein Schlüsselfaktor für langfristige Wertschöpfung und Resilienz, und wir arbeiten weiter daran, komplexe ESG-Erkenntnisse in Anlagethesen umzusetzen.
Auch wenn es schwierig ist, den Einfluss von Research zu messen, können wir ihren Wert für unsere Anlageprozesse qualitativ bewerten. Wir sind davon überzeugt, dass erfolgreiche Anleger ESG nicht nur als Risikotool, sondern als strategische Säule für die langfristige Wertschöpfung betrachten werden.
Fußnote
1Young Investors’ Support for ESG Dropped Dramatically in 2024 | Stanford Graduate School of Business
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